Chachelihöll
CD-Besprechung
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Besprechung der CD: Chachelihöll
Seit dem Dreissigjährigen Krieg, als der französische Militärbegriff Avantgarde sich in der deutschen Sprache einzunisten vermochte, verwirrt dieser wie ein Bazillus den deutschen Geist, indem er die künstlerische Vorhut mit der kriegerischen vereint. Chachelihöllen resultieren daraus, zerdepperte Milchkaffeekeramiktassenscherbenhaufen beispielsweise in Form einer ästhetisch aufgepeppt ausgestellten Edelkonsumschrottdeponie. Jener welsche Begriff infiziert also in bedrohlichem Ausmass unsere friedfertig allemannisch-germanische Welt, indem er das unberechenbare Paradoxon provoziert, dass wer nicht im stehenden Heer der konventionellen Artisten verkehrt, sondern voran zu gehen meint, als Avantgardist damit gleichzeitig dem patriotisch uniformierten Marsch seine verletzlich nackte Kehle hinhält. So zerbrechen der schuldigen Gegenwartsmusik in der Chachelihölle die ausgewogen wohlerzogen abgestimmten Herrschaftsinstrumente Trompeten wie Pauken unter der Hand. Das Althergebrachte aus dem Orchestergraben verweigert ihr, wohltemperierte Töne anzugeben. Neue elektronisch-akustische Ver- und Entzerrmaschinen schreddern statt dessen vor aller Augen ganze hörverwohnte Symphonien zu kleinkarrierten Dysharmonien. Erstaunlich nur, dass daraus ein Granulat aus Farbsplittern und Tonfetzen, Baustoff fürs Recycling innovativer Kompositionen entsteht, Ausgangsmaterial für zauberhaft überraschende Tongebilde und Fragmente neuartiger symphonischer Dichtung, die zwar als Konzeption an der Tradition der Programmmusik anknüpft, sie aber mittels improvisatorischer Techniken subjektiviert.
Die Bassorientierung der Tuba und Kontrabassisten (Matthias Wilhelm im vorliegenden Fall) unterstreicht unbewusst eine starke primäre Bindung an die vom Überich geprägte Welt, eben an die tiefe Vaterstimme, und sei es im antiautoritären Sinn. Faszinierend, wie Wilhelms in den Raum gepressten Tonvibrationen und die daraus resultierend wild flatternden akustischen Stosswellen die Stills der in die Musik an die Wand projizierten Dia-Schau aufnehmen, umhüllen und dem akustischen Raum übergeben, zum mitnehmen für jedermann, Mitspieler und Publikum. Es sind malerische Bilder, aufgenommen von Vater Wilhelm, dem Fotografen, von der wilden Deponie hinter dem Dorf am Graben wo der Bach noch fliesst und immer auch ein Schwelbrand glimmt, in der Chachelihöll halt, dem idyllischen Ort des zu Material gewordenen Kantönligeists der kleingebliebenen Schweiz.
Wer Hörgewohnheiten zerbricht, provoziert, wie jeder Hund weiss, Angst und Gekläff, wirkt als Klangerfinder hochgerüstet mit destabilisierendem Instrumentarium zu subversiven Zwecken, vulgär-formalistisch anstatt musikalisch-experimentell, und seis auch nur, weils entweder aus dem schweizer Hochdeutsch (im Gegensatz zum niederrheinischen Plattdeutsch) oder umgekehrt kommt. Richard Ortmann kontrapunktiert bravourös jene in der obigen Hölle dominierenden etwas peinlich kleinbäuerlichen Obertonmelodien mit den altlastverseucht brummeligen Montanindustriekonserven aus den unteren Etagen, sodass auf erschütternde Weise grösste Höhen mit tiefsten Niederungen sich verbinden. Er lässt Kanalarbeitergewerkschafts-funktionäre palavernd mitmusizieren und haut auf die Pauken und lässt damit vorübergehend das Konzertforum sich in eine virtuelle Maschinenhalle transformieren, lässt gleichzeitig aber auch Kuhherden läuten, als würde man mitweiden. Man muss sich nur wundern, wie viel Kraft in ihm steckt, dass ihm gelingt, den in diesem Milieu insistent völkisch-ergreifenden Dreiviertel immer wieder zugunsten einer grösseren Komplexität niederzuringen.
So macht also diese Musik zwei paradox vergleichbare europäische Regionen konkret: die urtümliche Schweiz mit ihren knapp sechs Millionen und das Ruhrgebiet der Gründerzeit mit ähnlich vielen Personen. Die eine definiert sich seit sechshundert Jahren primär über Abgrenzungen, was den quasi paranoiden Charakterpatriotismus der Deutschschweizer, der Kot und Schrott und Geld ästhetisch verklärt, erklärt; die andere unterwirft sich fassungslos allen Moden, immer in der Hoffnung, dass sie aktuell davon was abkriegt, was die Eingeborenenschaft latent lethargisch-gewerkschaftlich deformiert.
Da ist Johannes Brackmann der richtige, um mit Hinterhofgeräuschekunst und sinnlich übersteigerten Trombonfischriffs die schnarchenden Industrietrümmerriesen aus dem apokalyptischen Trauma zu erlösen und die schmelzenden Gletscher aus ihren touristischen Träumen zu holen, sie im Wachzustand wiederzubeleben für eine Zukunft jenseits schluchzender Depressionen und fluchender Sponsoren. Es mag neuromantisch klingen, doch die Nachtigall singt andersrum im Geröll des Alpentals als am ausgerollten Rasen des Rentnerparks zur Gesundheitspflege. Jede Emanzipation von Geworfenheit meint ein Anderssein auf andere Art. So verbindet sich spannungsvoll die Ästhetik des in die sekundäre Natürlichkeit verwachsenden Konsumüberschusses der stinkreichen Alpenregion (deren dünnhäutig-buntfarbenes Image zu implodieren droht am Unterdruck durch Sinnverlust) mit der schnöde ökogetrimmten makabren Schönheit der Ruhrlandschaft (deren fadenscheinig zu Kulturdenkmälern umdefinierten entleerten Industriekollosse vor Bedeutungsüberdruck zu platzen drohen) im Medium Musik.
Und diese Synthese ruhrschweizerisch dekonstruierter symphonischer Dichtung umspielen lachend, freundlich, sympathisch wie Senn und Kumpel, als kämen sie grad von den Bergen herunter respektive von Untertage herauf, Michael Bereckis ( Akkordeon und Klarinetten) und Guido Schlösser (elektronische Klangwerkzeuge in Eigenbau). Musikalisch permanent im Kampf gegen reaktionäre Gefühlsduselei. Im zähen Ringen um das, was man im Bereich der Akustik Facharbeit nennt. Es ist weder ein Totentanz zum Alpabtrieb in der sterbenden Natur, was wir hören, noch ein Morgenstreich zur Verklärung des Albtraums vom Ende einer industriellen Epoche.
Vielmehr ist Chachelihöll ein gutes Stück illustrierter Gegenwartsmusik.
Prof. Robert Bosshard
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